Zwischen den Zeilen - Die Schriftlichkeit der Liebesbriefe

Liebesbriefe haben einen eigentümlich undeutlichen Charakter: Sie können groß und dichterisch sein, oder sie sind in braunes Packpapier eingeschlagen und liegen in irgendwelchen Tiefen irgendwelcher Schubladen herum.

Der Liebesbrief ist eine seltsam zwitternde Form

Sie können trotz literarischer Bedeutung überhaupt niemanden je überzeugt haben, oder sie können, geschrieben in ungelenker Kinderschrift und verknittert vom Draufsitzen in kleinen Jeanshosen, die ganze Welt der Liebe, des Vertrauens, der Sehnsucht aufspannen. In ihnen können Rechtschreibfehler und stilistische Unsicherheiten einen tiefen, rührenden Zauber entfalten, und ebenso ist es möglich, dass eine meisterliche Briefprosa tödlich für die Liebe wirkt. Die beste Rhetorik kann versagen, wohingegen der abgebrochene Satz, der Abdruck eines Lippenstiftes, eine Fettstelle, eine Tränenspur, eingelegte Haare und das merkbar Verschwiegene unglaubliche Wirkungen zeitigen können. Aber genau das kann dann von Meister/innen der Verführung eingesetzt werden... kurz: Der Liebesbrief ist eine seltsam zwitternde Form, die im Übrigen auch nicht von jedermann und jederfrau gewählt wird.

Liebesbriefe: sie beschwören, erinnern, beteuern die Liebe: schriftlich

Aber in den Fällen, wo sie gewählt wird: Warum dieses Zwittern, diese Ambiguität, diese Mühen, diese Scheu, die es sogar verhindert, dass Liebesbriefe aus abgelebten Zeiten einfach in den Müll kommen? Im Gegenteil: Sie müssen heimlich, zeremoniell, nicht ohne Tränen, Wut und Wehmut verbrannt oder sonst wie vernichtet werden.
Ein Hauptgrund dafür dürfte darin liegen, dass Liebesbriefe Briefe, mithin Geschriebenes sind. Sie beschwören, erinnern, beteuern die Liebe: schriftlich. Aber seit Plato läuft die Diskussion über Schrift als Diskussion über Glaubwürdigkeit, über Authentizität. Der Brief ist ja gänzlich abgekoppelt von den Möglichkeiten der Kontrolle in mündlicher Kommunikation. Wenn die Liebenden reden, so sehen und hören sie sich. Sie haben nur wenig Zeit, sich zu verstellen. Was gesagt ist, ist gesagt. Und die Blicke und das Hören prüfen im Moment, ob geglaubt werden kann, was gesagt wurde, oder nicht. Wird geschrieben, ist dies alles nicht der Fall. Der Liebesbrief wird sorgfältig hergestellt. Viel Papier wird zerknüllt, Formulierungen werden gedrechselt und wieder verworfen, manchmal braucht man gar die Hilfe eines Meisters, etwa die des fecht- und schriftkundigen poetischen Mannes mit der langen Nase.

Der Liebesbrief: unvermeidbar strategisch

Der Liebesbrief ist folglich, was sie Liebe nicht sein darf: Er ist unvermeidbar strategisch. Auch wenn die Schreibende meint, sie sei eben dies nicht, so kann sie nicht verhindern, dass der Empfänger des Briefes Strategie unterstellt. Und wenn sie doch Authentizität in den Brief pumpen will, so beteuert sie noch mehr, noch stärker ihre wirkliche Liebe – und weckt und verstärkt damit nur den möglichen Zweifel. Vielleicht funktioniert der Liebesbrief nur, weil die Liebenden (diejenigen die sich so beschreiben) die Bemühung mitlieben. Das Scheitern ist – paradoxerweise – noch ein Grund mehr für die Liebe. Deswegen sagt man mitunter, dass die glatten, die gekonnten Briefe viel weniger bewirken als die unbeholfenen und angestrengten. Übrigens ist s aus diesem Grund nicht immer heiter, die eigenen Liebesbriefe aus liebesmunteren Tagen zu lesen. man zeigt sie kaum den eigenen Kindern, weil nur die Liebenden nicht lächerlich finden, das lächerlich wäre, ginge es nicht um Liebe. Und sicher ist es so, dass man aus demselben Grund Liebesbriefe (wenn sie denn nicht poetische Qualitäten der besonderen Art haben) selten zu Lebzeiten Liebender publiziert. Und wenn, ist damit umso mehr das Problem verknüpft, dass der meisterliche Brief ein Publikum einkalkuliert und deshalb noch größere Glaubwürdigkeitsprobleme hat, als die Schriftform der Bekundung von Liebe ohnehin schon auslöst.

Liebesbriefe sind der Form nach geheime Briefe

Das Besondere der Liebesbriefe ist ja genau, dass mit ihnen eine Form gewählt ist, die sich nahtlos einfügt in das, was Soziologen die Codierung von Liebe nennen. Das System der Liebe grenzt sich von allem, was sonst geschieht, ab durch eine einfache Operation. Es gibt eine Welt-des-Wir-Zwei und den Rest der Welt. Und die Zweierwelt ist exklusiv. Sie lässt niemanden herein. Auch bei den Briefen nicht. Sie sind genauso exklusiv. Deshalb wäre es eine Katastrophe, wenn entdeckt würde, dass jemand anderer beim Abfassen der Briefe geholfen hätte oder wenn die Empfängerin die Briefe gemeinsam mit ihren Freundinnen läse und diskutierte. Liebesbriefe sind der Form nach geheime Briefe, von denen man erwartet, dass sie ehrlich das Innerste nach außen kehren, wiewohl sie als schriftliche Dokumente den Zweifel an dieser Ehrlichkeit immer mitführen. Es ist kein Wunder, dass viele Leute davor zurückschrecken, diese Form zu wählen. Sie setzt Schreibkünste voraus, die sie eigentlich nicht voraussetzen dürfte. Man muss das können – diese Ehrlichkeit niederschreiben; aber eben dieses Können bewirkt, weil es schriftlich, die Möglichkeit, an die Glaubwürdigkeit nicht zu glauben.

Konkurrenz für den Liebesbrief

Bei alledem wird man mitsehen müssen, dass der Liebesbrief, wie er auf uns überkommen ist, Konkurrenz bekommen hat. An erster Stelle müsste man wohl das Telefon nennen und alle seine Abkömmlinge. Man kann über die Abgründe der Ozeane hinweg sich die Liebe zusäuseln. Man könnte es vom Mond her tun. Und die Stimme (wenn ihr auch das Gesicht und die Gesten fehlen) ist allemal authentischer als Schrift. Das Liebesgespräch am Telefon ist zweifelsfrei eine Aufwandsentlastung. Wer jetzt noch schreibt, muss ein besonderes Interesse verfolgen. Vermuten lässt sich, dass der Trotzdem-Brief den Schreiber, die Schreiberin in ein besonderes Licht setzt, in das Licht einer Zusatzleistung, einer Art von Luxusgewährung. Seit es Handys gibt, ist es ein deutliches Merkmal für hohe Ranglagen, wenn jemand nicht immer und sofort erreichbar ist. Seitdem man telefonieren kann, ist das Schreiben eines Liebensbriefes ein bemerkenswertes (durch Liebe belohnbares) Engagement, das sich nicht jeder leisten kann und wofür nicht jedem die Mittel zur Verfügung stehen. Vermutlich erhält sich die Gattung der Liebesbriefe nur noch in besonderen Soziallagen. Jemand schreibt an Claudia Schiffer, Arnold Schwarzenegger, Hillary Clinton – weil solche Leute nicht anrufbar sind. Sie haben den Status der Nichterreichbarkeit erreicht. So bleiben nur Briefe, von denen man wissen kann, dass sie von Sekretärinnen gelesen, aussortiert, vorsortiert werden. Eine andere Ranglage wäre ein ausgedünntes Literatentum, das sich Dokumente der eigenen Gefühlstiefe verschafft und sie zelebriert. Aber es ist ja abzusehen, dass Briefdokumente ihre Geschichte gehabt haben.
Immerhin aber Dokumente! Das Problem des Telefons ist dagegen seine absolute Gedächtnislosigkeit. Es hält die Liebesworte nicht fest. Man kann nicht auf diese Worte zurückkommen. Sie liegen auch nicht in irgendeiner Schublade – abrufbereit für melancholische Stunden  in späteren Jahren. Vor allem können sie nicht mehr als Beweise dafür dienen, dass es die Liebe zwischen zwei Leuten gegeben hat – intime Beweise, die nur zwischen zweien zählen, die das Glaubwürdigkeitsproblem ignorieren.

Liebe hat sich fraglos und hochgradig verzeitlicht

Dass das Telefon den Liebesbrief ersetzt (oder ihn zu einer super-erogatorischen Leistung macht), lässt sich als ein Symptom auffassen, weniger als Symptom für eine Erkrankung, sondern für eine Veränderung, die man nicht voreilig bewerten sollte. Die Liebe hat sich fraglos und hochgradig verzeitlicht. Sie galt schon immer als flüchtig, aber sie ließ sich durch welche Blindheitsleistungen auch immer auf eine ganze Lebenszeit beziehen, auf eine Dauer vom ersten zögerlichen Blick, der Liebe besagen sollte, bis hin zum Tode. Dann bedurfte es eines Arrangements von Gedächtnisstützen, aufbewahrten Briefen, rosa Schleifen, vergilbenden Fotografien, Hochzeitskleid und Hochzeitsfrack, die sich ansteuern ließen, um eine Art Selbstvergewisserung der Liebe über die Zeit hinweg zu gewährleisten. Die Schwüre galten der Ewigkeit einer gemeinsamen Lebenszeit, einer Liebe, die die Wonnen des Anfangs überdauert und still weiter trägt. Es wäre kurios, wenn nicht jeder und jede, die heute solche Schwüre leisten, wüssten, dass es ein Schwur auf eine wahrscheinlich befristete Zeit ist. Unter solchen Voraussetzungen ist es vermutlich vernünftig, das Gedächtnis des Systems nicht zu stabil zu gestalten – Telefon also statt aufwendiger Briefe.

Es könnte sein, dass der Liebesbrief dann in die Funktion einrückt, zu verhindern, dass einer der Beteiligten die Befristung wahr macht und aufhört. Für den Versuch, jemanden zu überzeugen, dass man noch geliebt sein will, obgleich der andere schon nicht mehr liebt, ist das Telefon zu schnell, zu leicht auflegbar, ein zu wenig zeitbindungsfähiges Medium. Der Brief bietet die Zeit, darzulegen, welche Gründe dafür sprechen, welche gemeinsamen Erinnerungen dazu verpflichten weiterzulieben, wenn die Liebe zu verschwinden droht. Der Liebesbrief wird zum Dokument einer Beschwörung mit allen rhetorischen Mitteln und er ist dabei zugleich das Vehikel einer Selbstberuhigung. Man hat getan, was man tun konnte – wenigsten als zivilisierter Mensch.

Elektronischen Post

Wo könnte er sonst noch überwintern? Man wird automatisch an die briefnahe, aber weitaus flüchtigere und zeitschnelle Form der E-Mail denken, der elektronischen Post. Das Problem ist die weitgehende Öffentlichkeit dieses Mediums. Wenn das mit elektronischen Mitteln seinerseits gelöst ist, bliebe das Problem der Zeitschnelligkeit. Die E-Mail verträgt nichts Gedrechseltes. Das mag daran liegen, dass es einmal den Liebesbrief gab. E-Mails fangen jedenfalls mit so etwas wie einem „Hi“ an und enden nicht mit Phrasen wie „Deine dich unendlich liebende…

Das Medium selbst scheint extrem ironisch zu sein. Man kann nicht auf den Bildschirm weinen, Haare mit ihm verschicken oder authentische Lippenabdrücke mit ihm verbinden. Sehr wohl aber gibt es pikturale Kommentare, Smileys zum Beispiel und andere Zeichen. Insofern könnte man denken, dass die E-Mail angemessen ist: Sie hält die Liebe in einer ironisch-prekären Schwebe, die auf allzu viel Gedächtnis verzichten kann. Sie entspricht der Beschleunigung von ernsthafter Intimität, der Tatsache, dass viele Partner/innen nacheinander geliebt werden können und dem Umstand, dass deswegen die große Liebe ein Mythos geworden ist – von fernher herüber klingend zu uns, die wir im Zeitalter der Ironie angekommen sind.

Peter Fuchs